Pilotprojekte zur Erprobung eines Bedingungslosen Grundeinkommens  (BGE) lösen in der öffentlichen, wie z.T. auch wissenschaftlichen  Debatte in der Regel widersprüchliche Reaktionen aus. Die einen knüpfen daran völlig überzogene Erwartungen, weil sie davon ausgehen, dass solche Projekte etwa die generelle Sinnhaftigkeit oder auch die ökonomische Machbarkeit eines BGE wissenschaftlich beweisen oder – je nach persönlicher Positionierung – ggf. auch widerlegen könnten. Andere wiederum lehnen jede Art von Pilotstudie ab, weil sie überzeugt sind, dass damit ohnehin nur falsche oder unbrauchbare Ergebnisse produziert würden. Beiden extremen Positionen ist entschieden zu widersprechen:

– Selbstverständlich können der Sinn und die ökonomische Machbarkeit eines BGE im umfassenden Sinn, also eines BGE gemäß den bekannten Kriterien, mittels einer auf eine bestimmte Zielgruppe und eine begrenzte Dauer festgelegten Pilotstudie weder wissenschaftlich bewiesen noch widerlegt werden; schließlich gehört zu den Definitionsmerkmalen des BGE im Prinzip der universelle Charakter eines damit verbundenen individuellen Rechtsanspruchs auf lebenslange Zahlung an alle Bürgerinnen und Bürger – oder sogar auch an alle Aufenthaltsberechtigten – in einem Land. Das schließt in der Tat Parameter ein, die aufgrund ihres Umfangs und ihrer Komplexität in einer begrenzten  Pilotstudie auf keinen Fall repräsentativ und angemessen abgebildet und wissenschaftlich überprüft werden können. 

– Gleichwohl kann die probeweise Zuwendung eines BGE an eine bestimmte Zielgruppe für eine begrenzte Dauer durchaus Sinn machen, in dem Maße nämlich, wie eine aufgrund bestimmter homogener Merkmale klar definierte Gruppe von Menschen im Rahmen einer solchen Pilotstudie eine Reihe von untersuchungswürdigen und objektiv überprüfbaren Erfahrungen macht. Die Formulierung von entsprechenden empirischen Untersuchungsergebnissen muss selbstverständlich die für die Studie geltenden – und sie relativierenden – Grenzen und Rahmenbedingungen berücksichtigen; sie kann aber in diesem Rahmen durchaus relevante Aussagen machen, sei es im Hinblick auf bestimmte quantifizierbare Aspekte, sei es in qualitativer Hinsicht. 

So ist es durchaus bemerkenswert – und auch wissenschaftlich relevant –

wenn etwa bei der finnischen Pilotstudie festgestellt wird, dass die Arbeitsmotivation von Erwerbslosen sich in signifikanter Weise positiv verändert, sobald diese an Stelle einer klassischen, an Bedingungen und Gegenleistungen geknüpften staatlichen Transferleistung eine bedingungslose Zuwendung erhalten. Auf eine derartige Veränderung der Arbeitsmotivation kann z.B. mittels quantifizierbarer Daten aufgrund von Fragebögen oder Verhaltensanalysen geschlossen werden, oder auch mittels gezielter, themenzentrierter Interviews, die in einer qualitativen Analyse ausgewertet werden. Im besten Falle wird die finnische Studie aufgrund entsprechender Ergebnisse im nächsten Jahr dazu führen, dass die Politik künftig bei Transferleistungen an Arbeitslose auf Forderungen nach Gegenleistungen und/oder die Androhung von Sanktionen verzichtet. Ein solcher Schritt, so ungewiss er derzeit sein mag, und so bescheiden er angesichts der realen Herausforderungen wäre, sollte keineswegs gering geschätzt werden, auch im Sinne einer Signalwirkung, die davon für Europa insgesamt ausgehen würde. 

Das gilt, auch wenn sich andrerseits nicht leugnen lässt, dass es gegenwärtig schlecht um Europa bestellt ist, was eben vor allem damit zu tun hat, dass es bisher nicht gelungen ist, über die wirtschaftliche und monetäre Integration hinaus auch ein integriertes soziales Europa zu schaffen. Dies wiederum ist nicht zuletzt dem Widerstand der Finanzmärkte und der dominierenden mit ihnen verbündeten politischen Kräfte zuzuschreiben, die kein Interesse an einem „sozialen“ Europa haben, das sich auf mündige, für Demokratie und Selbstbestimmung eintretende sowie am Gemeinwohl orientierte Bürgerinnen und Bürger stützt, einem Europa, wie z.B. auch ein BGE es befördern würde. 

In diesem Zusammenhang mag die in jüngster Zeit aus gegebenem Anlass intensiv diskutierte Frage von Interesse sein, als wie aktuell die Thesen von Karl Marx gegenwärtig noch einzuschätzen sind. Gleich drei Mainstream-Ökonomen (Ingo Pies, Werner Plumpe und Bertram Schefold), beantworteten diese Frage am 7.5.2018 beim Hamburger ZEIT-GESPRÄCH (organisiert vom „Wirtschaftsdienst), jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven in bemerkenswerter Einmütigkeit in dem Sinne, dass mit Marx heute – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn – „kein Staat mehr zu machen“ sei. 

Freilich gibt es auch andere Stimmen, etwa die des Arbeits- und Wirtschaftssoziologen Klaus Dörre aus Jena. Für ihn gibt es an der Aktualität zentraler Marxscher Thesen keinen Zweifel, weil die Marxsche Grundidee eines unausweichlichen Zwangs zur fortwährenden Akkumulation des Kapitals uneingeschränkt auch auf den aktuellen Finanzkapitalismus zutreffe. Im absehbaren weiteren historischen Verlauf gelte dies sogar noch verstärkt für den sich mittels sozialer Netzwerke und internationaler Medienkonzerne rasant weiterentwickelnden „digitalen Kapitalismus“.

Klaus Dörre beschreibt dieses Prinzip der nie endenden Kapitalakkumulation mit einem Begriff, der zwar nicht von Marx selbst stamme, der aber aus der späteren Imperialismus- und Kolonialismuskritik“ vertraut sei und das Gemeinte sehr plastisch und zutreffend beschreibe, nämlich dem Begriff der „Landnahme“. Tatsächlich lasse sich unschwer zeigen, wie der Kapitalismus immer wieder darauf angewiesen sei, sich neue Felder für Kapitalinvestitionen zu erschließen, und dies auch umsetze,

wobei sich solche Investitionen längst weitgehend, weg von der finanziellen Unterstützung konkreter realer Unternehmensprojekte, hin zu abstrakten und virtuellen Finanzprodukten verlagert hätten. Grundsätzlich habe sich jedoch an dem Prinzip der Inbesitznahme und des sich Einverleibens immer neuer, bisher noch nicht dem Kapitalismus unterworfener Subjekte, Objekte oder Strukturen geändert. Irgendwelche Chancen für eine Änderung dieses Sachverhalts seien nicht erkennbar. Einzig der Umstand, dass inzwischen der Klimawandel und Umweltzerstörungen im globalen Maßstab die Überlebensfrage der Menschheit und des Planeten stellten, lasse hoffen, dass dadurch noch ein radikaler Bruch mit dem zerstörerischen Prinzip fortwährender und nie endender Kapitalakkumulation erzwungen werden könne. Mit eben dieser Überlegung konfrontiert, fiel den erwähnten Mainstream-Ökonomen bei der Hamburger Podiumsdiskussion freilich als Gegenargument nur die „originelle“ These ein, dass – dem Sinne nach – die Welt aus ihrer Sicht im Gegenteil nur „durch noch mehr Kapitalismus zu retten sei“. Die Frage, wie das gehen solle 

ließen sie freilich unbeantwortet.  

 An dieser Stelle möchte ich dafür plädieren, in der Grundeinkommensbewegung, im Gegenzug zu einer solchen Reaktion, Klaus Dörres’ Metapher der „Landnahme“ mit umgekehrtem Vorzeichen zu verwenden, im Sinne von: „Europa  und seine Bürgerinnen und Bürger für das Grundeinkommen einnehmen“. Europäische Pilotprojekte werden so zu „Bulldozern“ bzw. zur „Vorhut“bei der Erschließung Europas fürs BGE. Außer den bereits laufenden können und sollten weitere Pilotprojekte mit anderen inhaltlichen Akzenten folgen, etwa zur Erprobung eines Kindergrundeinkommens oder zur Bekämpfung der Altersarmut. Eine besonders geeignete Zielgruppe wären Menschen, die freiwillig Angehörige pflegen möchten und aus diesem Grunde ihre Erwerbsarbeit reduzieren oder ganz aufgeben müssen. In den Niederlanden z.B. gibt es bereits Beispiele von Nachbarschaftsgruppen, in denen Menschen sich, bei Pflegebedarf von nahen Angehörigen, auf freiwilliger Basis zur wechselseitigen Unterstützung verpflichten. Was läge angesichts des generellen „Pflegenotstands“ in unseren Gesellschaften näher, als die Forderung, dass der Staat daraus ein Modell zur systematischen bedingungslosen finanziellen Unterstützung von pflegewilligen Angehörigen macht. Die EU-Kommission könnte

dazu eine dringende Empfehlung an die nationalen Regierungen aussprechen, sofern sie oder das EU-Parlament (oder auch beide) nicht selbst eine entsprechende Initiative ergreifen wollen. 

Aurélie Hampel, eine französische BGE-Aktivistin, schlägt ihrerseits ein Projekt für den Agrarsektor vor. An Stelle der bisher von der EU nach dem Gießkannenprinzip überwiegend in den industriellen Agrarsektor investierten Milliarden-Subventionen, könnten die in der Landwirtschaft arbeitenden Menschen direkt, in Form eines BGE, unterstützt werden. Ein entscheidender Gewinn läge dabei in besseren Chancen fürs Überleben, bzw. für die Neugründung, von kleineren, aber dafür umweltverträglich und nachhaltig wirt-schaftenden Betrieben in der Landwirtschaft; diese scheitern ja häufig nur daran, dass sie sich auf dem Markt nicht gegen die umweltfeindliche, über-mächtige Agrarindustrie behaupten können. 

Wiederum in den Niederlanden gibt es bereits mehrere regionale oder kommunale Pilotprojekte, die jeweils Teilaspekte unterschiedlicher BGE-Modelle erproben. 

Was läge auch hier näher, als dass solche regionalen oder kommunalen Projekte sich mit europäischen Partnern zusammenschließen, die über vergleichbare Rahmenbedingungen und Infrastrukturen verfügen und somit ähnlich gelagerte Interessen haben. In diesem Zusammenhang ist etwa das Angebot der Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange an die aktuelle schleswig-holsteinische Regierungskoalition in Kiel zu erwähnen, in ihrer Stadt einen Feldversuch zum BGE zu starten. Im Rahmen dieser Initiative könnte z.B. die Zusammenarbeit mit bereits auf diesem Feld erfahrenen europäischen Partnern dem Projekt zusätzlich Gewicht und Bedeutung verleihen. 

Abschließend möchte ich selber noch das Projekt einer europäischen Pilotstudie skizzieren, bei der es um die m.E. für einen BGE-Feldversuch wie den in Flensburg ebenfalls besonders geeignete Gruppe von Berufsanfängern oder auch Quer- und Wiedereinsteigern geht. Es liegt auf der Hand, dass Personen dieser Gruppe einerseits in der Regel in besonderem Maße auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind, da sie am Anfang einer Phase stehen, wo sie versuchen, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Andrerseits handelt es sich zugleich um eine Gruppe, an der im Prinzip auch Wirtschaft und Politik ein besonderes Interesse haben sollten; ist sie doch besonders dafür prädestiniert, dass aus ihr künftig innovative Start-up-Unternehmen hervorgehen, einmal entsprechende Gelegenheiten zur Profilierung und Bewährung der Interessierten vorausgesetzt. Folgende Skizze zu Rahmenbedingungen und Eckdaten einer solchen Pilotstudie mag dazu dienen, diese Überlegungen weiter zu konkretisieren. 

So sollte im Rahmen der Studie: 

– allen Berufsanfängern (im o.g. erweiterten Sinn) die monatliche Zahlung eines Existenz und gesellschaftliche Teilhabe sichernden BGE garantiert werden,

– dies flächendeckend z.B. in 3 kleineren EU-Ländern mit unterschiedlichen Arbeitsmarkt-Rahmenbedingungen (alternativ: in vergleichbaren Regionen in größeren Ländern),

– das Ganze während einer Periode von 3 bis maximal 5 Jahren.

– Eine vergleichende Begleitstudie sollte Fragen der Be- und Entlastungswirkungen des BGE auf Jobchancen, ggf. Arbeitszeitkürzungen und verändertes Konsumverhalten der Betroffenen prüfen;  

– Ferner sollten signifikante Veränderungen des Arbeitsmarktes in den betroffenen Ländern berücksichtigt werden. 

Dazu gehören eine erwartete Entwicklung von Start-Up-Unternehmen, von Aktivitäten der Selbständigen sowie die Bereitstellung von offenen Stellen. Die Begleitstudie sollte sich auf quantitative wie qualitative Untersuchungsmethoden stützen, d.h. z.B. standardisierte Fragebögen, Interviews, Inhaltsanalysen. 

– Die benötigten finanziellen Mittel wären selbstverständlich vor allem abhängig von der Anzahl der in die Studie einbezogenen Länder (Regionen) und Personen. Die Kosten könnten sich aber, den entsprechendem politischen Willen einmal vorausgesetzt, durchaus in einem überschaubaren und realistischen Rahmen bewegen, zumal im Falle einer wünschenswerten ergänzenden Unterstützung seitens der EU. 

– Die finanziellen Investitionen dürften sich sogar auch unabhängig von erwarteten Ergebnissen der Studie als ökonomisch lohnend erweisen, insofern sie voraussichtlich wie ein „Konjunktur- und Job-Beschaffungsprogramm“ wirken würden. Gerade unter diesem Gesichtspunkt könnte die Zielgruppen-Orientierung eines solchen Projektes besonders attraktiv sein für den in Schleswig-Holstein anvisierten Feldversuch, wenn man einmal die Prioritäten und Sensibilitäten der derzeit dort regierenden Jamaika-Koalition aus CDU, FDP und Grünen berücksichtigt. 

– Als ein nicht unerheblicherpositiver Nebeneffekt könnte sich dank der zu erwartenden Innovationsschübe – und zumal bei einer späteren Ausweitung des Projektes – ein spürbarer Rückgang der innereuropäischen Arbeitsmigration ergeben.

Alle in diesem Beitrag thematisierten, und möglicherweise weitere europäische Pilotprojekte stellen m.E. – gerade aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt –  Mosaiksteine im Dienste derselben Grundidee von mehr Solidarität, Selbstbestimmung und sozialer Gerechtigkeit in Europa dar. Ein ebenso naheliegendes wie gebotenes Ziel des Europäischen Netzwerkes UBIE könnte es deshalb sein, mittels Dokumentation einer Reihe von entsprechenden Projektergebnissen eine Synopsis (Gesamtschau) von Schritten zu einem europäischen BGE zu erstellen. 

Auch wenn auf diese Weise nicht sofort ein BGE im umfassenden Sinn (flächendeckend und gemäß den bekannten Kriterien) eingeführt würde, wäre daran doch erkennbar, dass der Geist des BGE weiter wächst; zugleich erfahren Bürgerinnen und Bürger dank konkreter Erfahrung eines BGE – oder BGE-ähnlicher Leistungen – europaweit am eigenen Leibe, dass es sich trotz aller Unkenrufe lohnt, für Europa und das europäische Projekt zu kämpfen.


[1]Vorgestellt von Klaus Dörre bei einem Vortrag im Rahmen der Tagung der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft zum Thema: „….nur verschieden interpretiert“? – zur Aktualität von Karl Marx“,  1.-3.6.2018 in Trier