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Ein soziales Europa? Es bleibt noch vieles zu tun …

Interview mit dem Hamburger Netzwerk Grundeinkommen, vertreten durch die Vorstandsmitglieder Otto Lüdemann und Rainer Ammermann in den Kulturpolitischen Mitteilungen (Ausgabe Nr. 178, III/2022)

KuMi: »In Europa haben wir die gerechtesten Gesellschaften der Welt, die höchsten Standards bei den Arbeitsbedingungen und den breitesten Sozialschutz« – so beschreibt die Europäische Kommission die soziale Lage in der EU im Vergleich mit anderen Weltregionen.
Es gibt seit dem Göteborger Gipfel 2017 die europäische Säule sozialer Rechte, in einer Strategischen Agenda für 2019 – 2024 wird eine »Richtschnur für ein starkes soziales Europa des 21. Jahrhunderts, das gerecht und inklusiv ist und Chancen für alle bietet« für die Mitgliedstaaten ausgebreitet. Gleichzeitig sind die Kompetenzen der EU in der Sozialpolitik beschränkt; sie kann die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Arbeitsbedingungen nur unterstützen und ergänzen. So hat die Europäische
Kommission im Oktober 2020 dem Rat und dem Europäischen Parlament einen Vorschlag für eine Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU vorgelegt.
Vor dem Hintergrund dieser Lage der »Sozialen Säule« der EU – wo sehen Sie die aktuellen Herausforderungen?

Im Weltmaßstab betrachtet mag die EU als vergleichsweise sozial gerecht erscheinen. Das macht jedoch nicht die massiven Defizite bei ihren sozialpolitischen Kompetenzen wett, führen die doch zu einem erheblichen Gefälle des Lebensstandards innerhalb der EU. Entscheidend ist, dass der europäischen
Exekutive die gesetzlichen Grundlagen und die Mittel fehlen, eine echte Sozialpolitik überhaupt zu konzipieren und konsequent durchzusetzen. Inhaltlich müsste eine alternative EU-Sozialpolitik
eine Doppelstrategie verfolgen:

  1. Auf der ökonomischen Ebene müsste sie möglichst nachhaltig den durch aktuelle Krisen aufgewor-
    fenen Herausforderungen gerecht werden. Ansätze, die wie das vom Wirtschafts- und Sozialausschuss des EU-Parlaments ausdrücklich begrüßte Konzept der Gemeinwohlökonomie (GWÖ) oder anderer vergleichbarer Bewegungen (etwa Donut- und Postwachstumsökono-
    mie, MMT) können dafür eine Leit-Orientierung bieten.
  2. Auf der sozialpolitischen Ebene müsste sie statt bloßer Vermeidung extremer Armut vor allem allen EU-Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, um daraus ein »gutes« Leben werden zu lassen. Das Konzept des Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) gemäß den dafür weltweit anerkannten Kriterien (d.h. anders als manche Konzernlenker
    es gerne sähen) bietet dafür eine Orientierung.

KuMi: Ihr Bündnis hat ja eine Europäische Bürgerinitiative »Bedingungsloses Grundeinkommen in der gesamten EU« unterstützt. Wie könnte dies Ihrer Meinung nach in den europäischen Staaten soziale Ungleichheiten verringern? Und: Weshalb wurde ihrer Meinung nach das Quorum verfehlt?

Bei der erwähnten Initiative ging es nicht um das Ziel »soziale Gleichstellung«, was u.E. weder ein realistisches noch ein wünschenswertes Ziel wäre. Eher schon um Chancengleichheit bzw. überhaupt erstmal um die Chance, verfassungsmäßig garantierte, demokratische Grundrechte in Anspruch zu
nehmen und auszuüben. Etwa in Fällen extremer Armut ist dies nämlich z.Zt. keineswegs gewährleistet.

Allerdings beschränken sich unsere Erwartungen an ein BGE nicht auf dieses fundamentale Recht und Ziel. Vielmehr gehen wir davon aus, dass ein BGE für viele Menschen produktive Impulse zur »Selbstermächtigung« und »Selbstbestimmung« ihres eigenen individuellen Lebens, aber auch für vorher nicht mögliche Initiativen in Gruppen und Institutionen sowie in der Gesellschaft insgesamt auslösen würde. Ein europaweites BGE wäre in diesem umfassenden Sinn ein entscheidender »Kulturimpuls«.

Die Frage nach den Gründen für das Verfehlen des Quorums von 1 Million Unterstützungsbekundungen lässt sich schwerlich eindeutig beantworten. Einerseits haben die Pandemie und weitere hinzugekommene Krisen den Menschen die Dringlichkeit einer dauerhaften sozialen Absicherung massiv vor Augen geführt. Der Staat hätte also immense Bürokratiekosten eingespart, hätte es zu Beginn der Pandemie bereits ein BGE gegeben. Eine breite Unterstüt zung der EBI hätte somit nahegelegen.
Andrerseits bleiben Vermutungen, weshalb die Menschen sich in diesen Pandemiezeiten trotzdem damit schwertaten, zwangsläufig vage und spekulativ.
Wurde die Initiative medial nicht optimal vermittelt? War die Bevölkerung mit so viel Krisen schlicht überfordert? Gab es noch andere Gründe? Wir werden es vermutlich nicht erfahren.

KuMi: Trotz des Scheiterns der Europäischen Bürgerinitiative gibt es ja weiter ein großes Interesse an dem Thema. So hat das Bedingungslose Grundeinkommen Eingang in die Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft Europas gefunden: »The most recurring sub-theme, with several ideas being highly endorsed and
commented on, concerns the unconditional basic income to ensure the ability of each person to participate in society«. Wie wird es hier Ihrer Erwartung nach weitergehen?

Die »Konferenz zur Zukunft Europas« ist mit den vorliegenden Empfehlungen noch nicht zu einem definitiven Abschluss gekommen. Die Empfehlungen werden vielmehr auf unterschiedlichen
Ebenen und in unterschiedlichen Gremien weiter zu behandeln sein.
Auch ein Verfassungskonvent mit der Möglichkeit, Vertragsänderungen zu erreichen, ist möglich. Wir werden diese Entwicklung aufmerksam verfolgen und uns im Rahmen unserer Möglichkeiten weiter einbringen. Das von uns vorbereitete Ausstellungsprojekt zum Thema Grundeinkommen, zusammen
mit den in seinem Rahmen möglichen Veranstaltungen, sehen wir als Chance, das Thema wie die damit verknüpften Herausforderungen im öffentlichen Bewusstsein präsent zu halten.

KuMi: Im Februar haben Sie sich um eine Förderung im EU-Programm CERV beworben. Gibt es schon eine Rückmeldung zu Ihrem Antrag? Welche Ideen sollen mit Ihrem Projekt verwirklicht werden?

Die erfolgte Rückmeldung zu unserem Antrag besagt, dass wir zwar nicht sofort eine Zusage erhalten haben, dass unser Projekt aber auf einer Reserveliste die Chance erhalten wird, im Rahmen eventuell verfügbarer finanzieller Ressourcen gegen Ende des Jahres doch noch berücksichtigt zu werden.
Wie schon angedeutet, möchten wir mit der Ausstellung »Mensch, Grundeinkommen!« eine offene Informations- und Diskussionsplattform schaffen, welche die Idee des BGE zu den Menschen bringt. Sie selbst sollen sich ein Bild machen und entscheiden, ob sie sich in dieser Idee wiederfinden.

Wir danken für das Gespräch!

Das Interview führte Jochen Butt-Pośnik, Kontaktstelle CERV.

Das Dokument gibt es >> hier zum Download.

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Ein Gespenst geht um in Europa

Ein Bedingungsloses Grundeinkommen hat das Bundesverfassungsgericht allerdings (noch) nicht gefordert. Insbesondere BILD hat zu alter Gehässigkeit zurückgefunden. Wer erinnert sich nicht gern an „Florida-Rolf“, jenen Hartz-IV-Empfänger, der doch tatsächlich seine Hartz-IV-Bezüge im sonnigen Florida verleben wollte, was schnell zu einer Gesetzesänderung geführt hat, dass man sich mit Hartz-IV doch bitte schön ein sorgenfreies Leben in Deutschland machen möge. Jetzt hat sich BILD einmal wieder an deutschen Stammtischen umgehört: „Hartz IV-Hammer: Wird Faulheit nicht mehr bestraft?“ (BILD am 6.11.19, Seite 1) Druck, Strafen, Bedingungen, das muss schon sein, dass sich bloß keiner in die Hängematte legt und vielleicht einmal über den Sinn des Lebens nachdenkt. Raffe, schaffe, Häusle baue! Das ist erste Bürgerspflicht. Geld vom Staat? Und das ohne Bedingungen, das geht nicht. Wo kämen wir dann hin? Das Bundesverfassungsgericht rüttelt an den Grundfesten unseres Staats!

Das führt mitten hinein in die aktuelle Diskussion über die Grundrente, die den Menschen, die 35 Jahre sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben, im Alter ein bescheidenes Plus bei der Rente sichern soll, das bei ca. 10 % über der staatlichen Grundsicherung liegen würde.  Der Stein des Anstoßes ist die Bedürftigkeitsprüfung, auf die in keinem Fall verzichtet werden darf, so tönt es aus den Reihen der CDU/CSU. Einmal mehr hat sich jetzt die „sozialdemokratische“ Bundeskanzlerin zu Wort gemeldet. Die Abgeordneten sollen aufhören, Beispiele von Villenbesitzern zu erzählen, die die Grundrente beziehen würden. Wolle die Union Volkspartei bleiben, müsse sie sich einfach mal umgucken, wie es beim Bäcker sei oder bei der Reinigungskraft aussehe: Das ist alles kein Spaß! Dort würden Geringverdiener arbeiten – die Grundrentner von morgen. Das sollten eben auch die Wähler der Union sein…. Ein kräftiges Wort! 

Nur was hat die Grundrente, die Grundsicherung bloß mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen zu tun? Das fragt man sich. Da taucht in Kommentaren der letzten Zeit in der Presse verdächtig oft, vornehmlich in den der konservativen Presse, die Warnung auf: Dass hier bloß keiner auf dumme Gedanken kommt! Wir reden bei der Grundrente in keinem Fall über das Bedingungslose Grundeinkommen! Dass gewisse Kreise das Bedingungslose Grundeinkommen wie der Teufel das Weihwasser scheuen, ist bekannt. Die Gegner des Bedingungslosen Grundeinkommen ziehen sich offensichtlich in ihre Burg zurück, kappen alle Verbindungen nach draußen und sehen in einem Bedingungslosen Grundeinkommen bereits die Demokratie in Gefahr. Es sieht so aus, als würden die Vertreter einer harten Linie über die Frage der Bedingungslosigkeit bei der Grundrente sogar die Groko über die Klinge springen lassen. Oder lieber doch nicht? Dann besteht doch die Gefahr, dass ein Wahlkampf über die soziale Gerechtigkeit in diesem Land geführt werden könnte. Davon werden die Wahlkampfmanager einiger Parteien mit Sicherheit abraten.

Steht es nun schlecht um das Bedingungslose Grundeinkommen? Keinesfalls! Mahatma Gandhi (1869 – 1948), der große indische Freiheitskämpfer, hat es gewusst: „Zuerst ignorieren sie Dich. Dann verspotten sie Dich. Dann greifen sie Dich an. Und dann gewinnst Du.“ Greifen die Gegner gerade an?

Europafahne
Pilotprojekte: Türöffner fürs BGE und für Europa

Pilotprojekte zur Erprobung eines Bedingungslosen Grundeinkommens  (BGE) lösen in der öffentlichen, wie z.T. auch wissenschaftlichen  Debatte in der Regel widersprüchliche Reaktionen aus. Die einen knüpfen daran völlig überzogene Erwartungen, weil sie davon ausgehen, dass solche Projekte etwa die generelle Sinnhaftigkeit oder auch die ökonomische Machbarkeit eines BGE wissenschaftlich beweisen oder – je nach persönlicher Positionierung – ggf. auch widerlegen könnten. Andere wiederum lehnen jede Art von Pilotstudie ab, weil sie überzeugt sind, dass damit ohnehin nur falsche oder unbrauchbare Ergebnisse produziert würden. Beiden extremen Positionen ist entschieden zu widersprechen:

– Selbstverständlich können der Sinn und die ökonomische Machbarkeit eines BGE im umfassenden Sinn, also eines BGE gemäß den bekannten Kriterien, mittels einer auf eine bestimmte Zielgruppe und eine begrenzte Dauer festgelegten Pilotstudie weder wissenschaftlich bewiesen noch widerlegt werden; schließlich gehört zu den Definitionsmerkmalen des BGE im Prinzip der universelle Charakter eines damit verbundenen individuellen Rechtsanspruchs auf lebenslange Zahlung an alle Bürgerinnen und Bürger – oder sogar auch an alle Aufenthaltsberechtigten – in einem Land. Das schließt in der Tat Parameter ein, die aufgrund ihres Umfangs und ihrer Komplexität in einer begrenzten  Pilotstudie auf keinen Fall repräsentativ und angemessen abgebildet und wissenschaftlich überprüft werden können. 

– Gleichwohl kann die probeweise Zuwendung eines BGE an eine bestimmte Zielgruppe für eine begrenzte Dauer durchaus Sinn machen, in dem Maße nämlich, wie eine aufgrund bestimmter homogener Merkmale klar definierte Gruppe von Menschen im Rahmen einer solchen Pilotstudie eine Reihe von untersuchungswürdigen und objektiv überprüfbaren Erfahrungen macht. Die Formulierung von entsprechenden empirischen Untersuchungsergebnissen muss selbstverständlich die für die Studie geltenden – und sie relativierenden – Grenzen und Rahmenbedingungen berücksichtigen; sie kann aber in diesem Rahmen durchaus relevante Aussagen machen, sei es im Hinblick auf bestimmte quantifizierbare Aspekte, sei es in qualitativer Hinsicht. 

So ist es durchaus bemerkenswert – und auch wissenschaftlich relevant –

wenn etwa bei der finnischen Pilotstudie festgestellt wird, dass die Arbeitsmotivation von Erwerbslosen sich in signifikanter Weise positiv verändert, sobald diese an Stelle einer klassischen, an Bedingungen und Gegenleistungen geknüpften staatlichen Transferleistung eine bedingungslose Zuwendung erhalten. Auf eine derartige Veränderung der Arbeitsmotivation kann z.B. mittels quantifizierbarer Daten aufgrund von Fragebögen oder Verhaltensanalysen geschlossen werden, oder auch mittels gezielter, themenzentrierter Interviews, die in einer qualitativen Analyse ausgewertet werden. Im besten Falle wird die finnische Studie aufgrund entsprechender Ergebnisse im nächsten Jahr dazu führen, dass die Politik künftig bei Transferleistungen an Arbeitslose auf Forderungen nach Gegenleistungen und/oder die Androhung von Sanktionen verzichtet. Ein solcher Schritt, so ungewiss er derzeit sein mag, und so bescheiden er angesichts der realen Herausforderungen wäre, sollte keineswegs gering geschätzt werden, auch im Sinne einer Signalwirkung, die davon für Europa insgesamt ausgehen würde. 

Das gilt, auch wenn sich andrerseits nicht leugnen lässt, dass es gegenwärtig schlecht um Europa bestellt ist, was eben vor allem damit zu tun hat, dass es bisher nicht gelungen ist, über die wirtschaftliche und monetäre Integration hinaus auch ein integriertes soziales Europa zu schaffen. Dies wiederum ist nicht zuletzt dem Widerstand der Finanzmärkte und der dominierenden mit ihnen verbündeten politischen Kräfte zuzuschreiben, die kein Interesse an einem „sozialen“ Europa haben, das sich auf mündige, für Demokratie und Selbstbestimmung eintretende sowie am Gemeinwohl orientierte Bürgerinnen und Bürger stützt, einem Europa, wie z.B. auch ein BGE es befördern würde. 

In diesem Zusammenhang mag die in jüngster Zeit aus gegebenem Anlass intensiv diskutierte Frage von Interesse sein, als wie aktuell die Thesen von Karl Marx gegenwärtig noch einzuschätzen sind. Gleich drei Mainstream-Ökonomen (Ingo Pies, Werner Plumpe und Bertram Schefold), beantworteten diese Frage am 7.5.2018 beim Hamburger ZEIT-GESPRÄCH (organisiert vom „Wirtschaftsdienst), jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven in bemerkenswerter Einmütigkeit in dem Sinne, dass mit Marx heute – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn – „kein Staat mehr zu machen“ sei. 

Freilich gibt es auch andere Stimmen, etwa die des Arbeits- und Wirtschaftssoziologen Klaus Dörre aus Jena. Für ihn gibt es an der Aktualität zentraler Marxscher Thesen keinen Zweifel, weil die Marxsche Grundidee eines unausweichlichen Zwangs zur fortwährenden Akkumulation des Kapitals uneingeschränkt auch auf den aktuellen Finanzkapitalismus zutreffe. Im absehbaren weiteren historischen Verlauf gelte dies sogar noch verstärkt für den sich mittels sozialer Netzwerke und internationaler Medienkonzerne rasant weiterentwickelnden „digitalen Kapitalismus“.

Klaus Dörre beschreibt dieses Prinzip der nie endenden Kapitalakkumulation mit einem Begriff, der zwar nicht von Marx selbst stamme, der aber aus der späteren Imperialismus- und Kolonialismuskritik“ vertraut sei und das Gemeinte sehr plastisch und zutreffend beschreibe, nämlich dem Begriff der „Landnahme“. Tatsächlich lasse sich unschwer zeigen, wie der Kapitalismus immer wieder darauf angewiesen sei, sich neue Felder für Kapitalinvestitionen zu erschließen, und dies auch umsetze,

wobei sich solche Investitionen längst weitgehend, weg von der finanziellen Unterstützung konkreter realer Unternehmensprojekte, hin zu abstrakten und virtuellen Finanzprodukten verlagert hätten. Grundsätzlich habe sich jedoch an dem Prinzip der Inbesitznahme und des sich Einverleibens immer neuer, bisher noch nicht dem Kapitalismus unterworfener Subjekte, Objekte oder Strukturen geändert. Irgendwelche Chancen für eine Änderung dieses Sachverhalts seien nicht erkennbar. Einzig der Umstand, dass inzwischen der Klimawandel und Umweltzerstörungen im globalen Maßstab die Überlebensfrage der Menschheit und des Planeten stellten, lasse hoffen, dass dadurch noch ein radikaler Bruch mit dem zerstörerischen Prinzip fortwährender und nie endender Kapitalakkumulation erzwungen werden könne. Mit eben dieser Überlegung konfrontiert, fiel den erwähnten Mainstream-Ökonomen bei der Hamburger Podiumsdiskussion freilich als Gegenargument nur die „originelle“ These ein, dass – dem Sinne nach – die Welt aus ihrer Sicht im Gegenteil nur „durch noch mehr Kapitalismus zu retten sei“. Die Frage, wie das gehen solle 

ließen sie freilich unbeantwortet.  

 An dieser Stelle möchte ich dafür plädieren, in der Grundeinkommensbewegung, im Gegenzug zu einer solchen Reaktion, Klaus Dörres’ Metapher der „Landnahme“ mit umgekehrtem Vorzeichen zu verwenden, im Sinne von: „Europa  und seine Bürgerinnen und Bürger für das Grundeinkommen einnehmen“. Europäische Pilotprojekte werden so zu „Bulldozern“ bzw. zur „Vorhut“bei der Erschließung Europas fürs BGE. Außer den bereits laufenden können und sollten weitere Pilotprojekte mit anderen inhaltlichen Akzenten folgen, etwa zur Erprobung eines Kindergrundeinkommens oder zur Bekämpfung der Altersarmut. Eine besonders geeignete Zielgruppe wären Menschen, die freiwillig Angehörige pflegen möchten und aus diesem Grunde ihre Erwerbsarbeit reduzieren oder ganz aufgeben müssen. In den Niederlanden z.B. gibt es bereits Beispiele von Nachbarschaftsgruppen, in denen Menschen sich, bei Pflegebedarf von nahen Angehörigen, auf freiwilliger Basis zur wechselseitigen Unterstützung verpflichten. Was läge angesichts des generellen „Pflegenotstands“ in unseren Gesellschaften näher, als die Forderung, dass der Staat daraus ein Modell zur systematischen bedingungslosen finanziellen Unterstützung von pflegewilligen Angehörigen macht. Die EU-Kommission könnte

dazu eine dringende Empfehlung an die nationalen Regierungen aussprechen, sofern sie oder das EU-Parlament (oder auch beide) nicht selbst eine entsprechende Initiative ergreifen wollen. 

Aurélie Hampel, eine französische BGE-Aktivistin, schlägt ihrerseits ein Projekt für den Agrarsektor vor. An Stelle der bisher von der EU nach dem Gießkannenprinzip überwiegend in den industriellen Agrarsektor investierten Milliarden-Subventionen, könnten die in der Landwirtschaft arbeitenden Menschen direkt, in Form eines BGE, unterstützt werden. Ein entscheidender Gewinn läge dabei in besseren Chancen fürs Überleben, bzw. für die Neugründung, von kleineren, aber dafür umweltverträglich und nachhaltig wirt-schaftenden Betrieben in der Landwirtschaft; diese scheitern ja häufig nur daran, dass sie sich auf dem Markt nicht gegen die umweltfeindliche, über-mächtige Agrarindustrie behaupten können. 

Wiederum in den Niederlanden gibt es bereits mehrere regionale oder kommunale Pilotprojekte, die jeweils Teilaspekte unterschiedlicher BGE-Modelle erproben. 

Was läge auch hier näher, als dass solche regionalen oder kommunalen Projekte sich mit europäischen Partnern zusammenschließen, die über vergleichbare Rahmenbedingungen und Infrastrukturen verfügen und somit ähnlich gelagerte Interessen haben. In diesem Zusammenhang ist etwa das Angebot der Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange an die aktuelle schleswig-holsteinische Regierungskoalition in Kiel zu erwähnen, in ihrer Stadt einen Feldversuch zum BGE zu starten. Im Rahmen dieser Initiative könnte z.B. die Zusammenarbeit mit bereits auf diesem Feld erfahrenen europäischen Partnern dem Projekt zusätzlich Gewicht und Bedeutung verleihen. 

Abschließend möchte ich selber noch das Projekt einer europäischen Pilotstudie skizzieren, bei der es um die m.E. für einen BGE-Feldversuch wie den in Flensburg ebenfalls besonders geeignete Gruppe von Berufsanfängern oder auch Quer- und Wiedereinsteigern geht. Es liegt auf der Hand, dass Personen dieser Gruppe einerseits in der Regel in besonderem Maße auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind, da sie am Anfang einer Phase stehen, wo sie versuchen, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Andrerseits handelt es sich zugleich um eine Gruppe, an der im Prinzip auch Wirtschaft und Politik ein besonderes Interesse haben sollten; ist sie doch besonders dafür prädestiniert, dass aus ihr künftig innovative Start-up-Unternehmen hervorgehen, einmal entsprechende Gelegenheiten zur Profilierung und Bewährung der Interessierten vorausgesetzt. Folgende Skizze zu Rahmenbedingungen und Eckdaten einer solchen Pilotstudie mag dazu dienen, diese Überlegungen weiter zu konkretisieren. 

So sollte im Rahmen der Studie: 

– allen Berufsanfängern (im o.g. erweiterten Sinn) die monatliche Zahlung eines Existenz und gesellschaftliche Teilhabe sichernden BGE garantiert werden,

– dies flächendeckend z.B. in 3 kleineren EU-Ländern mit unterschiedlichen Arbeitsmarkt-Rahmenbedingungen (alternativ: in vergleichbaren Regionen in größeren Ländern),

– das Ganze während einer Periode von 3 bis maximal 5 Jahren.

– Eine vergleichende Begleitstudie sollte Fragen der Be- und Entlastungswirkungen des BGE auf Jobchancen, ggf. Arbeitszeitkürzungen und verändertes Konsumverhalten der Betroffenen prüfen;  

– Ferner sollten signifikante Veränderungen des Arbeitsmarktes in den betroffenen Ländern berücksichtigt werden. 

Dazu gehören eine erwartete Entwicklung von Start-Up-Unternehmen, von Aktivitäten der Selbständigen sowie die Bereitstellung von offenen Stellen. Die Begleitstudie sollte sich auf quantitative wie qualitative Untersuchungsmethoden stützen, d.h. z.B. standardisierte Fragebögen, Interviews, Inhaltsanalysen. 

– Die benötigten finanziellen Mittel wären selbstverständlich vor allem abhängig von der Anzahl der in die Studie einbezogenen Länder (Regionen) und Personen. Die Kosten könnten sich aber, den entsprechendem politischen Willen einmal vorausgesetzt, durchaus in einem überschaubaren und realistischen Rahmen bewegen, zumal im Falle einer wünschenswerten ergänzenden Unterstützung seitens der EU. 

– Die finanziellen Investitionen dürften sich sogar auch unabhängig von erwarteten Ergebnissen der Studie als ökonomisch lohnend erweisen, insofern sie voraussichtlich wie ein „Konjunktur- und Job-Beschaffungsprogramm“ wirken würden. Gerade unter diesem Gesichtspunkt könnte die Zielgruppen-Orientierung eines solchen Projektes besonders attraktiv sein für den in Schleswig-Holstein anvisierten Feldversuch, wenn man einmal die Prioritäten und Sensibilitäten der derzeit dort regierenden Jamaika-Koalition aus CDU, FDP und Grünen berücksichtigt. 

– Als ein nicht unerheblicherpositiver Nebeneffekt könnte sich dank der zu erwartenden Innovationsschübe – und zumal bei einer späteren Ausweitung des Projektes – ein spürbarer Rückgang der innereuropäischen Arbeitsmigration ergeben.

Alle in diesem Beitrag thematisierten, und möglicherweise weitere europäische Pilotprojekte stellen m.E. – gerade aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt –  Mosaiksteine im Dienste derselben Grundidee von mehr Solidarität, Selbstbestimmung und sozialer Gerechtigkeit in Europa dar. Ein ebenso naheliegendes wie gebotenes Ziel des Europäischen Netzwerkes UBIE könnte es deshalb sein, mittels Dokumentation einer Reihe von entsprechenden Projektergebnissen eine Synopsis (Gesamtschau) von Schritten zu einem europäischen BGE zu erstellen. 

Auch wenn auf diese Weise nicht sofort ein BGE im umfassenden Sinn (flächendeckend und gemäß den bekannten Kriterien) eingeführt würde, wäre daran doch erkennbar, dass der Geist des BGE weiter wächst; zugleich erfahren Bürgerinnen und Bürger dank konkreter Erfahrung eines BGE – oder BGE-ähnlicher Leistungen – europaweit am eigenen Leibe, dass es sich trotz aller Unkenrufe lohnt, für Europa und das europäische Projekt zu kämpfen.


[1]Vorgestellt von Klaus Dörre bei einem Vortrag im Rahmen der Tagung der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft zum Thema: „….nur verschieden interpretiert“? – zur Aktualität von Karl Marx“,  1.-3.6.2018 in Trier 

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