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Wir sind gerade in krassem Maße dabei, uns vom vorbehaltlosen Teilen zu entfernen
Interview mit Otto Lüdemann im Infomagazin Seniorenbedarf

Zur Person: 
Über 20 Jahre lehrte Prof. Lüdemann Erziehungswissenschaften am FB Soziale Arbeit der HAW Hamburg, wo er zudem einen sog. Europa-Lehrstuhl für Interkulturelle Studien inne hatte. Neben seiner Mitgliedschaft in der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft ist er seit 2009 aktiv in der Grundeinkommensbewegung engagiert, wo er u. a. die “Europäische Bürgerinitiative 2013”, die „Hamburger Utopiewochen 2013 und 2014“ sowie die „Internationale Konferenz „Grundeinkommen & Degrowth 2016“ mit initiiert hat.

Infomagazin Seniorenbedarf: Herr Prof. Lüdemann, als Mitglied des Hamburger Netzwerks Grundeinkommen stehen Sie für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein. Warum braucht Deutschland, welches zu den weltweit führenden Wohlfahrtsstaaten gehört, so ein Grundeinkommen?

Lüdemann: Das Grundeinkommen macht in einem großen industrialisierten Land wie Deutschland genauso viel Sinn wie in einem kleinen Dorf in Afrika. Der Grund dafür ist, dass die Entscheidung für ein Grundeinkommen, da wo sie getroffen wird, nicht in erster Linie von verfügbaren staatlichen Finanzen, Expertenempfehlungen oder Regierungsbeschlüssen abhängen sollte; Die Entscheidung muss sich vielmehr vor allem auf den demokratischen Willen des jeweiligen „Souveräns“ (Dorfgemeinschaft, Region, Volk, überregionale oder auch supranationale Gemeinschaft) stützen.

Dieser muss klar die Bereitschaft des Souveräns zum Ausdruck bringen, einen ausreichenden Anteil der gemeinsamen Ressourcen wirklich zu teilen, um eine angemessene gesellschaftliche Teilhabe aller zu garantieren. Was in diesem Sinne „angemessen“ ist, muss ebenfalls einem demokratischen Willensbildungsprozess unterworfen werden.

In den westlichen Industriestaaten sind wir gerade in besonders krassem Maße dabei, uns von diesem Ziel vorbehaltlosen Teilens zu entfernen. Bekanntlich klafft zwischen armen und reichen Menschen dieser Länder, wie auch zwischen diesen und den ärmeren Staaten des globalen Südens als ganzen die „Schere zwischen Arm und Reich“ immer weiter auseinander. Gemäß einer gerade veröffentlichten Studie der bekannten britischen Organisation OXFAM besitzen derzeit 8 Personen so viel wie die ärmere Hälfte der Erdbevölkerung zusammen! Wenn dies auch nur annähernd zutrifft, wird deutlich, über welches Umverteilungspotenzial wir sprechen – auch wenn es sich dabei natürlich nicht um liquide Mittel, sondern um Vermögenswerte handelt, die man nicht einfach mal eben verteilen kann.

Infomagazin Seniorenbedarf: Insbesondere von Wirtschaftsverbänden wird argumentiert, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen die Motivation zur Arbeit hemmt und dies der Wirtschaftsleistung gefährlich werden könnte. Was halten Sie von diesem Argument?

Lüdemann: Wer so argumentiert, spricht seinen Mitmenschen die Fähigkeit ab, das eigene Leben selber in die Hand zu nehmen, es verantwortlich zu führen und zu gestalten, eine Fähigkeit, die man gleichwohl bei denselben Mitmenschen immer dann ganz selbst-verständlich voraussetzt oder auch einfordert, wenn es etwa um die effektive Gestaltung des Berufsalltags, die Wahrnehmung bürgerlicher und politischer Pflichten oder auch um die angemessene Erziehung von Kindern geht.

Tatsächlich zeigt sich an dieser Stelle ein schizophrenes Menschenbild zahlreicher Menschen: ein positives, sympathisches Bild für einen selbst (oder allenfalls zusätzlich noch für ein paar weitere Menschen aus dem vertrauten Umfeld), und ein zweites eher negatives und problematisches Menschenbild für alle andern, denen man dann grundsätzlich erst einmal misstraut. Ein solches „doppeltes“ Menschenbild erweist sich für viele durchaus als praktisch. Es erspart einem nämlich die Mühe, genauer hinzusehen, wenn es um andere Menschen oder komplexe menschliche Beziehungen geht. Sobald es schwierig wird, bietet sich die „Schublade“ mit dem negativen Menschenbild an. Vorurteile treten dann schnell an die Stelle von kritischer und selbstkritischer Urteilsbildung, Vorverurteilungen an die Stelle von eigentlich grundsätzlich erst einmal angezeigter und wünschenswerter Wertschätzung.

Infomagazin Seniorenbedarf: Spätestens bei der Frage nach der Finanzierung so eines Grundeinkommens scheiden sich die Geister. Hat Ihr Netzwerk dazu Argumente und Rechenbeispiele?

Lüdemann: Wer meine Antwort auf Ihre erste Frage wirklich versteht und ernst nimmt, sollte zustimmen, dass die Frage der „Finanzierung“ des Grundeinkommens sich dadurch erheblich relativiert, wenn nicht als obsolet erweist. Ein vom Souverän gebilligtes Grundeinkommen ist eben etwas Anderes als irgendein sonstiges steuerfinanziertes Großprojekt, etwa – um „zufällig“ gewählte Beispiele zu nennen, ein Bahnhof, ein Flughafen oder ein Konzertsaal. Im Unterschied zu diesen Beispielen sind an einem demokratisch beschlossenen Grundein-kommen von Anfang an alle gleichermaßen interessiert und beteiligt, denn alle profitieren gleichermaßen von den positiven Auswirkungen, tragen ggf. auch die Lasten. Der jedem / jeder Einzelnen zugewiesene Grundeinkommensbetrag kann sich zwar als zu hoch oder ökonomisch problematisch herausstellen. Dann muss das korrigiert werden. Das stellt aber nicht mehr den Grundkonsens in Frage.

Natürlich muss die damit angesprochene Umverteilung von vorhandenen Ressourcen möglichst gerecht und effizient organisiert werden. Das ist ein praktisches Problem, das gelöst werden muss, sobald der politische Wille zur Einführung eines Grundeinkommens sich abzeichnet, nicht früher und nicht später. Es gibt dafür längst eine Reihe von Modellen, an denen man sich orientieren kann.

Die meisten greifen entweder auf einzelne Steuerarten oder auf einen Mix derselben zurück, was dafür sorgt, dass die Lasten so ausgewogen wie möglich verteilt werden können. Als Orientierungsmarke für die wünschenswerte Höhe eines Grundeinkommens kann der Hinweis gelten, dass es über dem Wert der offiziell ermittelten Armutsgrenze eines Landes liegen sollte, um eine angemessene gesellschaftliche Teilhabe zu sichern. Andererseits ist auch ein gewisses „Lohnabstandsgebot“ zum Mindestlohn zu respektieren, um für alle einen Anreiz zur Fortführung einer Erwerbsarbeit aufrecht zu erhalten.

Infomagazin Seniorenbedarf: Ängste vor der „Migration in die Sozialsysteme“ werden längst auch von etablierten Parteien geschürt. Würde ein bedingungsloses Grundeinkommen Deutschland nicht noch attraktiver für Zuwanderung machen? Wäre das angesichts des demografischen Wandels gar zu begrüßen?

Lüdemann: Vorweg ist zu dieser Frage zu sagen, dass wir als westliche Industrieländer mit dem bei uns verfügbaren Produktionspotenzial, dank der Liberalisierung der Märkte, dem sich entwickelnden Finanzkapitalismus und der darauf gestützten neoliberalen Politik, die Globalisierung, und damit auch die Flüchtlingsströme erst ausgelöst haben. Unabhängig von der Frage des „demographischen Wandels“ ist deshalb das Mindeste, was man erwarten kann, dass wir Verantwortung bei der Bewältigung der Folgen unseres Handelns übernehmen. An dieser Stelle zeigt sich freilich eine weitere Form der Schizophrenie im mehrheitlichen öffentlichen Bewusstsein hierzulande: Einerseits neigt man dazu, die Vorteile und Wohltaten der globalen Vernetzung hervorzuheben und ist gleichzeitig bereit, die Augen vor den fatalen Risiken von globalen Freihandelsabkommen zu schließen. Andrerseits möchte man jedoch Zuwanderung abwehren, die ihrerseits eine direkte Konsequenz der Globalisierung ist.

Es gibt wahrscheinlich keine Patentlösung für dieses Dilemma, solange wir als Menschen in den Industrieländern nicht begreifen, in welchem Maße wir selbst Teil des Problems sind. Falls jedoch der Punkt erreicht wird, dass ein Grundeinkommen bei uns mehrheitlich gewollt wird, könnte ein erster sinnvoller Schritt darin bestehen, dessen Einführung nicht im nationalstaatlichen, sondern von Anfang an mindestens im europäischen Rahmen anzustreben. Eine problematische „Anreizfunktion“ zur Migration würde damit zumindest im innereuropäischen Rahmen entfallen. Statt – wie derzeit zunehmend der Fall – die EU als Austragungsort von nationalen Rivalitäten zu erleben, würde Europa damit für seine Bürgerinnen und Bürger zu einer Quelle der Erfahrung von Solidarität.

Bezüglich eines befürchteten Anreizes zur Migration aus Ländern außerhalb von Europa ist zu sagen, dass dieser Anreiz offensichtlich auch ohne Grundeinkommen jetzt schon besteht, denn auch jetzt schon müssen die bestehenden Sozialsysteme ja die Kosten einer Aufnahme von Migranten verkraften, bis diese eventuell irgendwann auf eigenen Füßen stehen. Ob ein Grundeinkommen den Anreiz da noch steigert, ist fraglich. Auch gäbe es ggf. Möglichkeiten, dieses Problem dadurch zu relativieren, dass etwa Migranten den Anspruch auf ein vollumfängliches Grundeinkommen erst zusammen mit einem unbeschränkten Aufenthalts-recht erwerben.

Infomagazin Seniorenbedarf: Die Schweizer haben in einer Volksabstimmung mit großer Mehrheit die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens für jeden Einwohner abgelehnt. Signalisiert dies nicht, dass sich auch die deutsche Bevölkerung gegen so ein Grundeinkommen aussprechen würde?

Lüdemann: Wenn man Schlussfolgerungen aus der Abstimmung in der Schweiz ziehen kann, dann eher im umgekehrten Sinn, dass die Schweizer ein bemerkenswertes Beispiel für die Attraktivität der Idee des Grundeinkommens geliefert haben, insofern es ihnen gelungen ist, und zwar aus dem Stand, die Zustimmung von knapp 25 % der Bevölkerung zu erreichen (ein Resultat, von dem die SPD bei uns nach 150 Jahren wechselvoller Parteigeschichte nur träumen kann!).

Hinzukommt der Umstand, dass eine parallel zur Abstimmung durchgeführte Umfrage ergeben hat, dass mehr als 60 % der Schweizer Stimmberechtigten die Idee des Grundeinkommens keineswegs grundsätzlich ablehnen, viele jedoch Zweifel und Bedenken bezüglich der vorgeschlagenen Umsetzungsmodalitäten hegten, dass sie außerdem fest davon überzeugt waren, dass das Thema auf der Tagesordnung bleiben wird. Dieses Ergebnis passt auch zu dem einer anderen, fast gleichzeitig durchgeführten europaweiten Umfrage; danach befürworten im Schnitt ebenfalls mehr als 60 % der europäischen Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich ein bedingungsloses Grundeinkommen (in den südeuropäischen Ländern sogar mehr als 70 %).

Infomagazin Seniorenbedarf: In Finnland testet man das bedingungslose Grundeinkommen gerade. Wie kommt es, dass die finnische Regierung sich dazu entschlossen hat? Und was haben Sie für Erwartungen an diesen Feldversuch?

Lüdemann: Nach allem, was über das finnische Experiment bekannt ist, wird dieses in der Grundeinkommensbewegung sehr ambivalent wahrgenommen. Einerseits freut man sich darüber, dass es die Diskussion über das Thema befördert, andrerseits rechtfertigen die beschlossenen Rahmenbedingungen die schlimmsten Befürchtungen, was die daraus zu erwartenden Schlussfolgerungen betrifft: Tatsächlich sind im Rahmen des Experiments für eine begrenzte Zeit von zwei Jahren und an eine begrenzte Zahl von 2000 Personen Transferzahlungen exakt in Höhe des bisherigen Arbeitslosengeldes von monatlich 560,- € vorgesehen. Die Empfänger werden ausschließlich unter Arbeitslosen ausgelost. Welche Auswirkungen ein Grundeinkommen auf Menschen hätte, die es nicht zum bloßen Überleben, sondern als Ergänzung zu einer vorhandenen Erwerbsarbeit sowie im Sinne der Entwicklung ihrer persönlichen Potenziale nutzen möchten, kommt bei einem solchen Untersuchungs-design überhaupt nicht in den Blick. Schlussfolgerungen, die einer solchen Zielsetzung des Grundeinkommens Rechnung tragen, sollen deshalb anscheinend von vornherein ausge-schlossen werden. Umgekehrt formuliert, scheint es den Organisatoren der Initiative eher um ein Modell zu gehen, dass im Sinne neoliberaler Politik Möglichkeiten des Bürokratieabbaus auf Kosten von sozialstaatlichen Errungenschaften demonstrieren soll, dabei aber emanzi-patorische Potenziale des Grundeinkommens bewusst und systematisch ausblendet.

Infomagazin Seniorenbedarf: Wo sehen Sie die größten (bürokratischen und partei-politischen) Hürden für die Etablierung eines Grundeinkommens in Deutschland? So eine Neuerung wäre immerhin sehr substanziell.

Lüdemann: Ich neige dazu, als größte Hürde für die Einführung eines Grundeinkommens eine Mentalität des Festhaltens am Bestehenden anzusehen; weniger Bürokratie oder Parteien, wohl aber eine tief sitzende Angst vor Veränderung ist die Ursache. Gelingt es, diese mentale Hürde in der Bevölkerung zu überwinden, werden auch Bürokraten keine Chance mehr haben, und Parteipolitiker sind bekanntlich immer die ersten, die ihr Fähnchen nach dem vorherrschenden Wind ausrichten.

Infomagazin Seniorenbedarf: Herr Prof. Dr. Lüdemann, was kann der Einzelne tun, um sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen stark zu machen? Sich, wie Sie es tun, in Netzwerken engagieren?

Lüdemann: Warum nicht! Wer dazu motiviert ist, soll dies gerne tun. Wir können zusätzliche Mitstreiter/Innen gut gebrauchen. Es ist aber auch schon viel gewonnen, wenn immer mehr Menschen sich anschicken, das Grundeinkommen in seiner wesentlichen emanzipatorischen Intention wirklich zu „denken“ und darüber in ihrem Umfeld zu reden beginnen.

Infomagazin Seniorenbedarf: Herr Prof. Lüdemann, wir danken Ihnen vielmals für dieses Interview!

the only time is now
ROBOTOPIA – Sollen wir Arbeit neu denken?
Eingangs-Statement zu grundsätzlichen, ggf. derzeit auch utopisch erscheinenden Thesen:  

Angesichts einer globalen Digitalisierung müssten neue Konzepte von Arbeit eigentlich am besten auch gleich in einem globalen Rahmen diskutiert werden. Um realistisch zu bleiben, sollte es aber zumindest ein europäischer Rahmen sein, der dann bezüglich seiner politischen und ökonomischen Ausgestaltung grundlegend zu reformieren wäre.
Der Grund:  Das Konzept von Arbeit, und damit auch der Arbeitsalltag der Menschen, hängt entscheidend von solchen Rahmenbedingungen ab. Fremdbestimmte Erwerbsarbeit und selbstbestimmte freiwillige Arbeit sollten im Rahmen eines solchen europaweiten gemeinsamen Konzeptes von Arbeit gleichermaßen wertgeschätzt und entlohnt werden. Konkret heißt das: An Stelle des Scherbenhaufens einer seit Jahrzehnten fehlgeleiteten, auf Konkurrenz und Gewinnmaximierung basierenden, neoliberalen EU-Politik, bedarf es eines Europa, das auf ein solides gemeinsames, menschen- statt bankenfreundlich konzipiertes Finanz-, Steuer und Sozialsystem gegründet und wirklich demokratisch organisiert ist. Leitbild sollten eine konsequent nachhaltige, solidarische sowie gemeinwohlorientierte Organisation der ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen sein. Optimale Voraussetzungen einer Entwicklung in diese Richtung wären Schritte zur Vorbereitung

  • einer Geld- und Bankenreform,
  • eines europäischen Verfassungskonventes
  • einer konsequenten ökologischen Orientierung der Ökonomie an den Prinzipien der Gemeinwohlökonomie,
  • und die Einführung eines als Kulturimpuls verstandenen bedingungs-losen Grundeinkommens.
Kurz- und mittelfristige Überlegungen

Vielleicht wird die fortschreitende Digitalisierung in Industrie und Wirtschaft wegen der daraus resultierenden massiven Arbeitsplatz-verluste schon eher als bisher gedacht die Einführung eines Grund-einkommens erzwingen oder zumindest erleichtern. In diesem Fall kommt es darauf an, das BGE nicht ausschließlich als probates Mittel zur Armutsbekämpfung oder zur Behebung von arbeitsmarkt-spezifischen Kollateralschäden zu begreifen, – obwohl es auch dazu seinen Beitrag leisten würde -, sondern in erster Linie gemäß seinem eigenständigen Sinn und Wert als Kulturimpuls. Das bedeutet, dass die bekannten Grundkriterien des BGE (also ein sowohl allgemeiner als auch individueller Rechtsanspruch darauf, die Bedingungslosigkeit der Gewährung, eine ausreichende Höhe für angemessene gesellschaft-liche Teilhabe) nicht aufgeweicht werden dürfen. Im Kontext der Frage nach der Zukunft der Arbeit folgt daraus, dass ein BGE nicht Erwerbsarbeit ersetzt, sondern im Regelfall selbstbestimmte (Teilzeit)-Arbeit ermöglicht.

Das Risiko einer „Pervertierung“ des BGE durch Aufweichung seiner Grundkriterien wäre –  gerade in einer zunehmend digitalisierten Welt – dort besonders hoch, wo etwa große Konzerne unter dem Vorwand von Kosten- oder Wettbewerbsdruck versuchen könnten, das BGE als Mittel zum Lohndumping oder auch von vornherein als „Kombilohn“ zu missbrauchen. Dieses Risiko ergibt sich vor allem an Standorten von großen Konzernen (Beispiele: VW in Wolfsburg, Bayer in Leverkusen) wo die Beschäftigten – selbst mit einem BGE – aufgrund der Monopolstellung solcher Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt kaum über Verhand-lungsmacht verfügen und  insofern auf  deren Jobangebote angewiesen sind. Auch nach Einführung eines BGE sollte deshalb auf jeden Fall der gesetzliche Anspruch auf Mindestlohn weiter gelten, um so möglichst prekäre Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse  auszuschließen.

„Denkraum Arbeit“ http://denkraumarbeit.de, eine Initiative des Progressiven Zentrums  und der Friedrich Ebert-Stiftung, hat unter dem Namen „Gesellschaftsvertrag Solidarische Flexibilität“ grundsätzlich durchaus diskussionswürdige Vorschläge für ein individuelles Teilzeit-arbeits-Wahlrecht  oder auch eines Bonus-Malus-Systems bezüglich der Arbeitsbedingungen von Unternehmen gemacht.
Ein zeitlich begrenztes „Teilzeit-Wahlrecht“, das – wie es dort heißt – über einen „aktiven Staat“ finanziert würde, stellt ja im Grunde nichts Anderes als ein punktuelles und partielles Grundeinkommen dar, allerdings mit einem entscheidenden Manko: Einzelnen erwachsenen Bürgern wird nach diesem Modell – im Unterschied zu einem BGE – auch weiterhin generell nicht zugetraut, ihr Leben ohne Kontrolle oder Zwang zu Gegenleistungen wirklich selbst in die Hand zu nehmen.

Das Konzept eines Bonus-Malus-Systems bei vorbildlichen, bzw. problematischen Arbeitsbedingungen ist seinerseits eine originäre Idee der Gemeinwohlökonomie. Dort sind die Arbeitsbedingungen allerdings nur ein Element in einer ganzen Reihe von Parametern einer um-fassenden „Gemeinwohlbilanz“, zu der beteiligte Unternehmen sich freiwillig verpflichten. Wenn die Autoren von „Denkraum Arbeit“ sich ernsthaft für eine Gemeinwohlorientierung der Ökonomie engagieren wollen,dann sollten sie deshalb gleich eine solche Gemeinwohlbilanz in ihre Überlegungen einbeziehen. Die wurde übrigens bereits 2015 hochoffiziell vom Wirtschafts- und Sozialausschuss des europäischen Parlaments gelobt und mehrheitlich ausdrücklich als wegweisendes Konzept empfohlen.

Trotz einer Reihe von zu bedenkenden Risiken erscheint inzwischen in zahlreichen dafür geeigneten gesellschaftlichen Bereichen eine zeitnahe Digitalisierung und Vernetzung von Produkten und Dienstleistungen plausibel und auch durchaus wünschenswert. Wird es aber gleichzeitig  –  möglichst damit verknüpft – Maßnahmen zur Entschleunigung und Begrenzung von ökonomischem Wachstum geben? Zu wünschen wäre dies, ist aber bisher nicht absehbar.

Leider ist eben davon auszugehen, dass die Wirtschaft nicht freiwillig zu solchen Maßnahmen bereit sein wird, zumal derzeit die Finanzmärkte Milliardensummen in die Digitalisierung investieren und dafür ent-sprechende Renditen erwarten.  Zu erwarten ist deshalb eher, dass der Konkurrenzdruck und das Bestreben nach Gewinnmaximierung noch weiter steigen. Ein probates Mittel, um diesen Tendenzen zu begegnen, könnten lohnende Steuersparanreize sein, etwa in Form von finanziellen Vorteilen oder Erstattungen bei der Körperschaftssteuer für Unternehmen, die bereit wären, auf Gewinnmaximierungsstrategien zu verzichten, bzw. sich einer Gemeinwohlbilanz zu unterziehen. Zahlreiche Beispiele aus der bereits existierenden Praxis der Gemeinwohlökonomie zeigen: Bei kleinen und mittleren Unternehmen, die sich von solchen Vorteilen überzeugen lassen, können derartige Anreize durchaus greifen. Größere oder gar multinationale Konzerne mit großer Marktreichweite lassen sich dadurch allerdings bisher kaum beeindrucken. Gerade darauf käme es freilich an, wenn das Ziel eine nachhaltige und solidarische Gesellschaft in Europa sein soll[1].

– Ethisch wie ökonomisch und ökologisch fragwürdige Großprojekte von Großkonzernen,  wie z.B. die Entwicklung selbstfahrender Autos, die Durchsetzung menschenverachtender Marktstrategien mittels  Standort-verlagerung in Billiglohnländer oder auch ein die Demokratie unter-wandernder systematischer Lobbyismus lassen sich vermutlich nur durch entschlossene gesetzgeberische Maßnahmen ausbremsen, die das aktuelle System insgesamt in Frage stellen. Leider scheint dazu bisher der politische Wille weitgehend zu fehlen. Die  Einführung eines BGE in Verbindung mit mehr Gemeinwohlorientierung könnte gleichwohl im öffentlichen Bewusstsein immerhin einen allmählichen Stimmungs-umschwung in Richtung von mehr Erfahrung realer Solidarität und verantwortlicher demokratischer Teilhabe einleiten.

Paradoxerweise stehen die Chancen für eine Einführung des BGE in diesem Sinn auf europäischer Ebene vielleicht sogar besser als in einem nur nationalstaatlichen Rahmen. Diese gewagte These bedarf näherer Begründung. Auf den ersten Blick spricht angesichts des drohenden Zerfalls der EU ja eher alles gegen ein solches Szenario. Nach dem Motto „Zukunft entsteht aus Krise“ ist es aber nicht abwegig, genau darin eine Chance zu sehen. Im Grunde ist die aktuelle Situation nämlich durchaus vergleichbar mit der nach dem 2.Weltkrieg. Damals wie heute standen bzw. stehen wir vor einem Scherbenhaufen. Zum Glück besteht der heute nicht aus Kriegstrümmern, sondern „nur“ aus einer fehlgeleiteten, letztlich gescheiterten EU-Politik. Die Herausforderung aber ist vergleichbar.  Sie lautet:  Europa neu denken !

Die Politologin Ulrike Guérot hat sich mit ihrem lesenswerten Buch „Warum Europa eine Republik werden muss – eine politische Utopie“ dieser Herausforderung gestellt. Mehr Gemeinwohlorientierung ist eine wesentliche Grundlage ihres Konzeptes einer postnationalen euro-päischen Republik. Auf Nachfrage hat sie ausdrücklich bestätigt, dass sie auch ein BGE ausdrücklich als eine innovative, an ihr Konzept anschlussfähige Idee betrachtet.

Wer den Begriff der Arbeit von der Idee des Grundeinkommens her denkt, begreift, dass sein Einkommen, und damit sein Auskommen, nicht länger von einer Erwerbsarbeit abhängt. Er kann also in seinem Kopf Arbeit und Einkommen als Grundlagen der Existenzsicherung von-einander trennen. Noch wichtiger ist die Konsequenz daraus, nämlich die, dass er die Arbeit, die nicht Erwerbsarbeit ist, – z.B. Hausarbeit, Pflegearbeit, freiwillige Arbeit, ehrenamtliche Arbeit….in einem Wort: jede wirklich selbstbestimmte Arbeit – umso mehr schätzen kann. Solche Steigerung der Wertschätzung von selbstbestimmter Arbeit macht den Sinn und Wert eines BGE aus, denn es zeigt sich darin: Es ist menschenfreundlich, es dient dem guten Leben, – mit Erich Fromm gesprochen – es drückt die Liebe zum Leben aus.

Das Risiko in einem weitgehend durch Digitalisierung bestimmten Arbeitsalltag liegt darin, dass die Menschen zunehmend zu Sklaven einer von Maschinen bestimmten Welt werden. Dieses Risiko kann In dem Maße minimiert werden, wie sie sich dank eines BGE die Souveränität über ihr Leben zurückholen. Die Gemeinwohlökonomie kann ihrerseits dafür sorgen, dass entsprechende Risiken von vornherein ausgeschaltet oder zumindest reduziert werden, indem diese bei den Parametern der Gemeinwohlbilanz berücksichtigt werden.

Abschluss-Statement

 Für die Bewertung der Arbeit in einer zunehmend global vernetzten und digitalisierten Welt ist insoweit der entscheidende, allem anderen übergeordnete Maßstab die Frage:  Wie menschenfreundlich – oder wie menschenfeindlich erleben die Menschen die Arbeit?  Dient sie der Liebe zum Leben oder wirken ihre Bedingungen und Organisations-formen sich letztlich destruktiv auf das Leben aus ? Eine digitalisierte Gesellschaft erscheint, trotz offener Fragen und Risiken, mit menschenfreundlichen Arbeitsbedingungen durchaus vereinbar. Die Einführung eines BGE und einer stärkeren Gemeinwohlorientierung der Ökonomie – am besten gleich in Europa – wären dafür besonders förderliche Voraussetzungen.

O. Lüdemann


[1]

Ein von Harald Welzer angeregtes Forschungsprojekt:

http://nachhaltigeswirtschaften-soef.de/givun, bei dem sich erstmalig auch große Konzerne wie Deutsche Post, dm und das Versandhaus OTTO beteiligen, stellt sich derzeit dieser Herausforderung.

Angriff mit Banane
Siemens & Co – die falschen Freunde?

Manchem langjährigen Befürworter des Grundeinkommens kommt es möglicherweise schon ein wenig unheimlich vor, dass immer mehr namhafte Chefs von großen Konzernen für sich das Grundeinkommen entdecken. Im letzten Jahr hatten sich bereits Tim Höttges, Chef der Telekom AG, und  Dr. Sven Leukert, Vicepräsident des  deutschen Softwareunternehmens SAP, für ein Grundeinkommen ausgesprochen. Nicht, dass sie ein Grundeinkommen nötig hätten, so gering ist die Entlohnung von Vorständen in Deutschland noch nicht, aber es scheint sich auch auf den obersten Ebenen von großen Konzernen die Einsicht durchzusetzen, dass angesichts des technischen Wandels, der immer mehr und immer wieder mit dem Schlagwort „Industrie 4.0“ in Verbindung gebracht wird, eine neue bessere soziale Absicherung ihrer Mitarbeiter und der von der bezahlten Arbeit Freigesetzten von Nöten ist. Es würden absehbar „einige auf der Strecke bleiben, weil sie einfach nicht mehr mitkämen“, warnte Kaeser auf dem SZ-Wirtschaftsgipfel. Zur Finanzierung kann Tim Höttges sich immerhin vorstellen, das Grundeinkommen durch die Besteuerung der Gewinne großer Internetkonzerne sicherzu stellen.

Wird die Idee vom Grundeinkommen nun durch die DAX-Konzerne übernommen? So weit sind wir sicherlich noch nicht und zu erwarten ist das auch nicht.  Aber auffällig ist doch, dass Konzernchefs sich überhaupt Gedanken darüber machen, dass die aus dem technischen Wandel resultierende Produktivität, die zunehmend eine Produktivität von Maschinen, Computern oder Robotern sein wird, ziemlich gnadenlos Arbeitsplätze hinwegfegen wird. Es werden auch nicht quasi automatisch neue entstehen, wie es jahrzehntelang gewesen ist. Die OECD rechnet damit, dass in den nächsten Jahren bei einem Wegfall von sieben Arbeitsplätzen nur noch zwei neue Arbeitsplätze entstehen werden. Die Gewerkschaften und viele Politiker hinken bei diesem Thema hinterher, wie leider so oft bei grundsätzlichen gesellschaftlichen Problemen. Das Grundeinkommen ist allerdings ein Projekt der Zivilgesellschaft, und nicht unbedingt eines der politischen Parteien. Die Gesellschaft muss das Grundeinkommen ausdiskutieren und dann der Politik die Vorgaben machen.

Die Konzernchefs, die offenbar über intime Kenntnisse darüber verfügen, wie sich die Arbeitswelt verändert, insbesondere wie sich die Beschäftigungslage und die Einkommenssituation entwickelt, sind ein Teil der Zivilgesellschaft und eingeladen, sich aktiv in die Diskussion über ein Grundeinkommen einzubringen. Vorbildlich hat dies in den letzten 10 Jahren der Unternehmer Götz Werner von „dm“ getan.  Insoweit ist auch Joe Kaeser, sind die anderen Konzernchefs als Mitglieder der Zivilgesellschaft, herzlich eingeladen, sich an der Diskussion über ein Grundeinkommen zu beteiligen, ob Freund oder nicht.

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