Zur Person:
Über 20 Jahre lehrte Prof. Lüdemann Erziehungswissenschaften am FB Soziale Arbeit der HAW Hamburg, wo er zudem einen sog. Europa-Lehrstuhl für Interkulturelle Studien inne hatte. Neben seiner Mitgliedschaft in der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft ist er seit 2009 aktiv in der Grundeinkommensbewegung engagiert, wo er u. a. die “Europäische Bürgerinitiative 2013”, die „Hamburger Utopiewochen 2013 und 2014“ sowie die „Internationale Konferenz „Grundeinkommen & Degrowth 2016“ mit initiiert hat.
Infomagazin Seniorenbedarf: Herr Prof. Lüdemann, als Mitglied des Hamburger Netzwerks Grundeinkommen stehen Sie für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein. Warum braucht Deutschland, welches zu den weltweit führenden Wohlfahrtsstaaten gehört, so ein Grundeinkommen?
Lüdemann:
Das Grundeinkommen macht in einem großen industrialisierten Land wie
Deutschland genauso viel Sinn wie in einem kleinen Dorf in Afrika. Der
Grund dafür ist, dass die Entscheidung für ein Grundeinkommen, da wo sie
getroffen wird, nicht in erster Linie von verfügbaren staatlichen
Finanzen, Expertenempfehlungen oder Regierungsbeschlüssen abhängen
sollte; Die Entscheidung muss sich vielmehr vor allem auf den
demokratischen Willen des jeweiligen „Souveräns“ (Dorfgemeinschaft,
Region, Volk, überregionale oder auch supranationale Gemeinschaft)
stützen.
Dieser
muss klar die Bereitschaft des Souveräns zum Ausdruck bringen, einen
ausreichenden Anteil der gemeinsamen Ressourcen wirklich zu teilen, um
eine angemessene gesellschaftliche Teilhabe aller zu garantieren. Was in
diesem Sinne „angemessen“ ist, muss ebenfalls einem demokratischen
Willensbildungsprozess unterworfen werden.
In
den westlichen Industriestaaten sind wir gerade in besonders krassem
Maße dabei, uns von diesem Ziel vorbehaltlosen Teilens zu entfernen.
Bekanntlich klafft zwischen armen und reichen Menschen dieser Länder,
wie auch zwischen diesen und den ärmeren Staaten des globalen Südens als
ganzen die „Schere zwischen Arm und Reich“ immer weiter auseinander.
Gemäß einer gerade veröffentlichten Studie der bekannten britischen
Organisation OXFAM besitzen derzeit 8 Personen so viel wie die ärmere
Hälfte der Erdbevölkerung zusammen! Wenn dies auch nur annähernd
zutrifft, wird deutlich, über welches Umverteilungspotenzial wir
sprechen – auch wenn es sich dabei natürlich nicht um liquide Mittel,
sondern um Vermögenswerte handelt, die man nicht einfach mal eben
verteilen kann.
Infomagazin Seniorenbedarf: Insbesondere von Wirtschaftsverbänden wird argumentiert, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen die Motivation zur Arbeit hemmt und dies der Wirtschaftsleistung gefährlich werden könnte. Was halten Sie von diesem Argument?
Lüdemann:
Wer so argumentiert, spricht seinen Mitmenschen die Fähigkeit ab, das
eigene Leben selber in die Hand zu nehmen, es verantwortlich zu führen
und zu gestalten, eine Fähigkeit, die man gleichwohl bei denselben
Mitmenschen immer dann ganz selbst-verständlich voraussetzt oder auch
einfordert, wenn es etwa um die effektive Gestaltung des Berufsalltags,
die Wahrnehmung bürgerlicher und politischer Pflichten oder auch um die
angemessene Erziehung von Kindern geht.
Tatsächlich
zeigt sich an dieser Stelle ein schizophrenes Menschenbild zahlreicher
Menschen: ein positives, sympathisches Bild für einen selbst (oder
allenfalls zusätzlich noch für ein paar weitere Menschen aus dem
vertrauten Umfeld), und ein zweites eher negatives und problematisches
Menschenbild für alle andern, denen man dann grundsätzlich erst einmal
misstraut. Ein solches „doppeltes“ Menschenbild erweist sich für viele
durchaus als praktisch. Es erspart einem nämlich die Mühe, genauer
hinzusehen, wenn es um andere Menschen oder komplexe menschliche
Beziehungen geht. Sobald es schwierig wird, bietet sich die „Schublade“
mit dem negativen Menschenbild an. Vorurteile treten dann schnell an die
Stelle von kritischer und selbstkritischer Urteilsbildung,
Vorverurteilungen an die Stelle von eigentlich grundsätzlich erst einmal
angezeigter und wünschenswerter Wertschätzung.
Infomagazin Seniorenbedarf: Spätestens bei der Frage nach der Finanzierung so eines Grundeinkommens scheiden sich die Geister. Hat Ihr Netzwerk dazu Argumente und Rechenbeispiele?
Lüdemann:
Wer meine Antwort auf Ihre erste Frage wirklich versteht und ernst
nimmt, sollte zustimmen, dass die Frage der „Finanzierung“ des
Grundeinkommens sich dadurch erheblich relativiert, wenn nicht als
obsolet erweist. Ein vom Souverän gebilligtes Grundeinkommen ist eben
etwas Anderes als irgendein sonstiges steuerfinanziertes Großprojekt,
etwa – um „zufällig“ gewählte Beispiele zu nennen, ein Bahnhof, ein
Flughafen oder ein Konzertsaal. Im Unterschied zu diesen Beispielen sind
an einem demokratisch beschlossenen Grundein-kommen von Anfang an alle
gleichermaßen interessiert und beteiligt, denn alle profitieren
gleichermaßen von den positiven Auswirkungen, tragen ggf. auch die
Lasten. Der jedem / jeder Einzelnen zugewiesene Grundeinkommensbetrag
kann sich zwar als zu hoch oder ökonomisch problematisch herausstellen.
Dann muss das korrigiert werden. Das stellt aber nicht mehr den
Grundkonsens in Frage.
Natürlich
muss die damit angesprochene Umverteilung von vorhandenen Ressourcen
möglichst gerecht und effizient organisiert werden. Das ist ein
praktisches Problem, das gelöst werden muss, sobald der politische Wille
zur Einführung eines Grundeinkommens sich abzeichnet, nicht früher und
nicht später. Es gibt dafür längst eine Reihe von Modellen, an denen man
sich orientieren kann.
Die
meisten greifen entweder auf einzelne Steuerarten oder auf einen Mix
derselben zurück, was dafür sorgt, dass die Lasten so ausgewogen wie
möglich verteilt werden können. Als Orientierungsmarke für die
wünschenswerte Höhe eines Grundeinkommens kann der Hinweis gelten, dass
es über dem Wert der offiziell ermittelten Armutsgrenze eines Landes
liegen sollte, um eine angemessene gesellschaftliche Teilhabe zu
sichern. Andererseits ist auch ein gewisses „Lohnabstandsgebot“ zum
Mindestlohn zu respektieren, um für alle einen Anreiz zur Fortführung
einer Erwerbsarbeit aufrecht zu erhalten.
Infomagazin Seniorenbedarf: Ängste vor der „Migration in die Sozialsysteme“ werden längst auch von etablierten Parteien geschürt. Würde ein bedingungsloses Grundeinkommen Deutschland nicht noch attraktiver für Zuwanderung machen? Wäre das angesichts des demografischen Wandels gar zu begrüßen?
Lüdemann:
Vorweg ist zu dieser Frage zu sagen, dass wir als westliche
Industrieländer mit dem bei uns verfügbaren Produktionspotenzial, dank
der Liberalisierung der Märkte, dem sich entwickelnden
Finanzkapitalismus und der darauf gestützten neoliberalen Politik, die
Globalisierung, und damit auch die Flüchtlingsströme erst ausgelöst
haben. Unabhängig von der Frage des „demographischen Wandels“ ist
deshalb das Mindeste, was man erwarten kann, dass wir Verantwortung bei
der Bewältigung der Folgen unseres Handelns übernehmen. An dieser Stelle
zeigt sich freilich eine weitere Form der Schizophrenie im
mehrheitlichen öffentlichen Bewusstsein hierzulande: Einerseits neigt
man dazu, die Vorteile und Wohltaten der globalen Vernetzung
hervorzuheben und ist gleichzeitig bereit, die Augen vor den fatalen
Risiken von globalen Freihandelsabkommen zu schließen. Andrerseits
möchte man jedoch Zuwanderung abwehren, die ihrerseits eine direkte
Konsequenz der Globalisierung ist.
Es
gibt wahrscheinlich keine Patentlösung für dieses Dilemma, solange wir
als Menschen in den Industrieländern nicht begreifen, in welchem Maße
wir selbst Teil des Problems sind. Falls jedoch der Punkt erreicht wird,
dass ein Grundeinkommen bei uns mehrheitlich gewollt wird, könnte ein
erster sinnvoller Schritt darin bestehen, dessen Einführung nicht im
nationalstaatlichen, sondern von Anfang an mindestens im europäischen
Rahmen anzustreben. Eine problematische „Anreizfunktion“ zur Migration
würde damit zumindest im innereuropäischen Rahmen entfallen. Statt – wie
derzeit zunehmend der Fall – die EU als Austragungsort von nationalen
Rivalitäten zu erleben, würde Europa damit für seine Bürgerinnen und
Bürger zu einer Quelle der Erfahrung von Solidarität.
Bezüglich eines befürchteten Anreizes zur Migration aus Ländern
außerhalb von Europa ist zu sagen, dass dieser Anreiz offensichtlich
auch ohne Grundeinkommen jetzt schon besteht, denn auch jetzt schon
müssen die bestehenden Sozialsysteme ja die Kosten einer Aufnahme von
Migranten verkraften, bis diese eventuell irgendwann auf eigenen Füßen
stehen. Ob ein Grundeinkommen den Anreiz da noch steigert, ist fraglich.
Auch gäbe es ggf. Möglichkeiten, dieses Problem dadurch zu
relativieren, dass etwa Migranten den Anspruch auf ein vollumfängliches
Grundeinkommen erst zusammen mit einem unbeschränkten Aufenthalts-recht
erwerben.
Infomagazin Seniorenbedarf: Die Schweizer haben in einer Volksabstimmung mit großer Mehrheit die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens für jeden Einwohner abgelehnt. Signalisiert dies nicht, dass sich auch die deutsche Bevölkerung gegen so ein Grundeinkommen aussprechen würde?
Lüdemann:
Wenn man Schlussfolgerungen aus der Abstimmung in der Schweiz ziehen
kann, dann eher im umgekehrten Sinn, dass die Schweizer ein
bemerkenswertes Beispiel für die Attraktivität der Idee des
Grundeinkommens geliefert haben, insofern es ihnen gelungen ist, und
zwar aus dem Stand, die Zustimmung von knapp 25 % der Bevölkerung zu
erreichen (ein Resultat, von dem die SPD bei uns nach 150 Jahren
wechselvoller Parteigeschichte nur träumen kann!).
Hinzukommt
der Umstand, dass eine parallel zur Abstimmung durchgeführte Umfrage
ergeben hat, dass mehr als 60 % der Schweizer Stimmberechtigten die Idee
des Grundeinkommens keineswegs grundsätzlich ablehnen, viele jedoch
Zweifel und Bedenken bezüglich der vorgeschlagenen Umsetzungsmodalitäten
hegten, dass sie außerdem fest davon überzeugt waren, dass das Thema
auf der Tagesordnung bleiben wird. Dieses Ergebnis passt auch zu dem
einer anderen, fast gleichzeitig durchgeführten europaweiten Umfrage;
danach befürworten im Schnitt ebenfalls mehr als 60 % der europäischen
Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich ein bedingungsloses Grundeinkommen
(in den südeuropäischen Ländern sogar mehr als 70 %).
Infomagazin Seniorenbedarf: In Finnland testet man das bedingungslose Grundeinkommen gerade. Wie kommt es, dass die finnische Regierung sich dazu entschlossen hat? Und was haben Sie für Erwartungen an diesen Feldversuch?
Lüdemann: Nach allem, was über das finnische Experiment bekannt ist, wird dieses in der Grundeinkommensbewegung sehr ambivalent wahrgenommen.
Einerseits freut man sich darüber, dass es die Diskussion über das
Thema befördert, andrerseits rechtfertigen die beschlossenen
Rahmenbedingungen die schlimmsten Befürchtungen, was die daraus zu
erwartenden Schlussfolgerungen betrifft: Tatsächlich sind im Rahmen des
Experiments für eine begrenzte Zeit von zwei Jahren und an eine
begrenzte Zahl von 2000 Personen Transferzahlungen exakt in Höhe des
bisherigen Arbeitslosengeldes von monatlich 560,- € vorgesehen. Die
Empfänger werden ausschließlich unter Arbeitslosen ausgelost. Welche
Auswirkungen ein Grundeinkommen auf Menschen hätte, die es nicht zum
bloßen Überleben, sondern als Ergänzung zu einer vorhandenen
Erwerbsarbeit sowie im Sinne der Entwicklung ihrer persönlichen
Potenziale nutzen möchten, kommt bei einem solchen Untersuchungs-design
überhaupt nicht in den Blick. Schlussfolgerungen, die einer solchen
Zielsetzung des Grundeinkommens Rechnung tragen, sollen deshalb
anscheinend von vornherein ausge-schlossen werden. Umgekehrt formuliert,
scheint es den Organisatoren der Initiative eher um ein Modell zu
gehen, dass im Sinne neoliberaler Politik Möglichkeiten des
Bürokratieabbaus auf Kosten von sozialstaatlichen Errungenschaften
demonstrieren soll, dabei aber emanzi-patorische Potenziale des
Grundeinkommens bewusst und systematisch ausblendet.
Infomagazin Seniorenbedarf: Wo sehen Sie die größten (bürokratischen und partei-politischen) Hürden für die Etablierung eines Grundeinkommens in Deutschland? So eine Neuerung wäre immerhin sehr substanziell.
Lüdemann:
Ich neige dazu, als größte Hürde für die Einführung eines
Grundeinkommens eine Mentalität des Festhaltens am Bestehenden
anzusehen; weniger Bürokratie oder Parteien, wohl aber eine tief
sitzende Angst vor Veränderung ist die Ursache. Gelingt es, diese
mentale Hürde in der Bevölkerung zu überwinden, werden auch Bürokraten
keine Chance mehr haben, und Parteipolitiker sind bekanntlich immer die
ersten, die ihr Fähnchen nach dem vorherrschenden Wind ausrichten.
Infomagazin Seniorenbedarf: Herr Prof. Dr. Lüdemann, was kann der Einzelne tun, um sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen stark zu machen? Sich, wie Sie es tun, in Netzwerken engagieren?
Lüdemann:
Warum nicht! Wer dazu motiviert ist, soll dies gerne tun. Wir können
zusätzliche Mitstreiter/Innen gut gebrauchen. Es ist aber auch schon
viel gewonnen, wenn immer mehr Menschen sich anschicken, das
Grundeinkommen in seiner wesentlichen emanzipatorischen Intention
wirklich zu „denken“ und darüber in ihrem Umfeld zu reden beginnen.
Infomagazin Seniorenbedarf: Herr Prof. Lüdemann, wir danken Ihnen vielmals für dieses Interview!