Autor: Dr. Hans-Jürgen Arlt
Das Leitbild der bezahlten Arbeit ist eine moderne Lebenslüge. Tatsächlich geht es nur um erarbeitete Bezahlung, wie das überragende Interesse an der zeitlichen Befristung und am Lohn der Arbeit zeigt. Hochgehalten wie eine Monstranz wird das verzerrte Leitbild von Leuten, die auf Wahlplakate schreiben „Arbeit, Arbeit, Arbeit“, die Bündnisse für Arbeit schließen, betriebliche und politische, die Transparente durch die Gegend tragen, auf welchen Sprüche stehen wie „Keine Arbeit ist so schlimm wie keine“. Es sind Gläubige, gläubige Anhänger der Arbeitsgesellschaft, die arbeiten werden bis zum letzten Job so wie andere spielen bis zum letzten Cent.
Menschen sind, anders als die Lilien auf dem Feld, tätige Wesen, die ihre Lebensbedingungen selbst zu gestalten versuchen. Deshalb betreiben sie Ackerbau und Viehzucht, deshalb singen und tanzen sie, deshalb erfinden sie Maschinen und entwickeln Computer. Menschliche Aktivitäten streng nach Arbeit oder Nichtarbeit zu sortieren und die Arbeit primär nach wirtschaftlichen Kriterien zu organisieren, hat nichts Natürliches an sich, beides sind gesellschaftliche Prägungen. Die hohen Priester der Arbeitsgesellschaft verwenden einen zweifachen Deutungstrick. Sie tun so, als lebe unsere Gesellschaft alleine von bezahlter Arbeit, und blenden dabei den – gemessen an Arbeitsstunden größeren – Teil unbezahlter (Frauen-) Arbeit aus. Zudem setzen sie die Notwendigkeit und das Bedürfnis aktiv zu sein mit Erwerbstätigkeit gleich und stellen so jeden, der nicht ‚arbeitet ‘, unter den Generalverdacht der Faulheit. Das hat eine Geschichte.
Wer nicht isst, kann nicht arbeiten. Umgekehrt haben feudale Herrschaften über viele Jahrhunderte hinweg bewiesen, dass man sehr gut essen kann ohne zu arbeiten. Genau dagegen ist die Industriegesellschaft angetreten. Schon die Bezeichnung Industriegesellschaft – vom lateinischen industria, der Fleiß – war ein Kampfbegriff gegen den faulen Adel, gegen das ständische Vorrecht auf Konsum ohne Arbeit. Das aufsteigende Bürgertum hat das Arbeiten, das vorher als asozial galt, das Sklaven, Leibeigenen, Knechten und Mägden aufgebürdet wurde, umgewertet und aufgewertet. Bürgerliche Vordenker wie John Locke und Adam Smith erkoren die Arbeit zum Schöpfer des Eigentums und des Reichtums und brachten sie damit gegen den feudalen Adel in Stellung. „Arbeit macht das Leben süß… der nur hat Bekümmerniß, der die Arbeit haßt“, dichtete 1777 der Wahlberliner Gottlob Wilhelm Burmann.
Die Arbeiterbewegung spielte mit und übernahm später mit den „Helden der Arbeit“ sogar die Führung. Das Gothaer Programm der SAP – heute die Abkürzung für „Systemanalyse und Programmentwicklung“, damals für „Sozialistische Arbeiterpartei“ – feierte 1875 die Arbeit als „Quelle allen Reichtums und aller Kultur“. Die Hymne der Arbeiterbewegung, „Die Internationale“, stimmte aus voller Brust an: „Die Müßiggänger schiebt beiseite! Diese Welt muss unser sein.“ August Bebel, einem der sozialdemokratischen Gründerväter, erschien es ganz natürlich zu erklären, der Sozialismus stimme mit der Bibel darin überein, wer nicht arbeite, solle nicht essen.
Der Mensch hat, jedenfalls als Mann, einer bezahlten Arbeit nachzugehen, darin sind sich die Klassenfeinde von gestern einig. Die Sozialpartner von heute auch. Der Schaeffler-Huber ist in Österreich eine Wirtschaft am Pfarrberg, in Deutschland eine Seilschaft am Schuldenberg. Was verbindet den IG Metall Vorsitzenden mit Maria-Elisabeth Schaeffler? „Wir glauben“, sagte die Milliardärin, „dass die notwendigen politischen Entscheidungen leichter fallen, wenn Gesellschafter und Gewerkschaft an einem Strang zum Erhalt der Arbeitsplätze des Unternehmensverbundes Schaeffler-Conti ziehen.” Der Arbeitsplatz als Joker des Arbeitgebers sticht immer, allerdings unter wechselnden Vorzeichen: Werden Arbeitsplätze garantiert, freuen sich Politik und Gewerkschaft, werden Arbeitsplätze eingespart, steigen die Zuversicht der Investoren und der Börsenkurs.
Nicht am Anfang, da war die Proletarisierung, aber später – mit dem Erstarken der Gewerkschaften und des Genossenschaftswesens, mit der Verankerung des Sozialstaates und der politischen Demokratie – wurde die Erwerbsarbeit als Fortschritt erlebt und die Arbeitsgesellschaft ihres Wachstums und Wohlstands wegen gefeiert. Drei vorher nie gekannte gesellschaftliche Strukturmerkmale entwickelten sich zur Selbstverständlichkeit: Erstens bildet die wirtschaftlich organisierte – deswegen produktivitätsorientierte, rationalisierte und technisierte – Arbeit den Ausgangspunkt für die historisch unvergleichliche Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft. Zweitens geht ohne Geld nichts mehr. Je konsequenter und exklusiver das Kriterium der Wirtschaftlichkeit durchschlägt, desto feingliedriger und globaler wird die Arbeitsteilung, desto dominanter das Geld. Von der Schuhsohle bis zum Scheitel, von der gekauften Wiege bis zur bezahlten Bahre sind wir abhängig von anderer Menschen Arbeit, deren Erzeugnisse und Leistungen wir für cash oder auf Kredit erwerben. Wie die Politik im Staat so bekommt die Wirtschaft in der Bank ihr Nervenzentrum. Die Wirkungen eines größeren Störfalls erleben wir gerade. Drittens schließlich wird die individuelle Erwerbstätigkeit, Karriere potentiell inbegriffen, zur Basis der sozialen Existenz, der gesellschaftlichen Anerkennung, sogar der Selbstverwirklichung.
Aus den Widersprüchlichkeiten dieser Anforderungen an die Erwerbsarbeit entstehen Konflikte wie Mücken im Moor. In der Reizfarbe Rot wird über Löhne und Arbeitszeiten, über Leistungen und Lasten des Sozialsystems, über Bildungs- und Aufstiegschancen gestritten; in der Reizfarbe Grün über die Destruktivkraft der Arbeit – keine Herstellung ohne Zerstörung – und über die externalisierten Umweltkosten wirtschaftlich organisierter Tätigkeiten. Tabuisiert bleibt der Knackpunkt, dass die direkte Kopplung von individueller Erwerbsarbeit und sozialer Existenz zur Falle geworden ist.
Wenn ohne Geld nichts geht und Bezahlung für die meisten Menschen strikt an Erwerbsarbeit gebunden ist, dann wird der Arbeitsplatz zur Schlüsselstelle, dann ist sozial, was Arbeit schafft. „Wir kämpfen um jeden Arbeitsplatz“ fehlt in keiner Gewerkschaftsrede. Hängen die Arbeitsplätze von der Wirtschaftlichkeit der Arbeit ab, schnappt die Falle zu, jetzt muss man für und gegen Arbeitsplätze, für gute und für billige Arbeit zugleich sein. Denn bezogen auf das einzelne Unternehmen führt die Abschaffung der einen zur zeitweisen Bestandssicherung der anderen Arbeitsplätze. Und für die Arbeitskräfte wird ‚gute Arbeit‘ zum Risiko, sofern sie teure Arbeit ist. Aus diesen Zwickmühlen entspringt der Doppelcharakter der Gewerkschaft als Sozialpartner und Konfliktgegner, mit dem die Öffentlichkeit bis heute nicht zurecht kommt und die Gewerkschaft selbst auch nicht. Diese Falle verursacht den alltäglichen millionenfachen Deal Arbeitsplatz für Anpassung. Was Frauen und Männer sich zumuten lassen an Rücksichtslosigkeit und Willkür, was sie sich auferlegen an Stillhalten, Wohlverhalten und Abnicken steht in einem direkten Zusammenhang mit der Notwendigkeit, den Arbeitsplatz zu behalten, einen besseren zu finden oder überhaupt einen zu bekommen. Diese Falle ist verantwortlich für das Gefühl, man könnte nur (über)leben, solange man nicht so lebt, wie man leben möchte.
Kapitalverwerter und Arbeitskraftbeschützer sind gefangen in den Wiederholungszwängen ihres bald zweihundertjährigen Verstriktseins. Dem Entscheidungskriterium der einen, „mehr Geld“, setzten die anderen „mehr Arbeit“ entgegen – jener Wahnsinn provoziert diesen Unsinn. Beiden entgeht der Auflösungsprozess der Arbeitsgesellschaft, der im Scheitern des – als Beschäftigungsgesellschaft organisierten – Sozialismus einen Meilenstein gesetzt hat. Zu den aktuellen Indizien dieses Auflösungsprozesses gehören sowohl das Ausmaß an Verwahrlosung, sozialer Not und Unsicherheit, verursacht durch den Mangel an Erwerbsarbeit und deren teilweise Entwertung; als auch die Gesundheitsrisiken und Umweltgefahren der Erwerbsarbeit selbst und vieler Produkte, die sie hervorbringt. Das alles erscheint als das kleinere Übel, solange soziale Existenz und Erwerbstätigkeit individuell gekoppelt bleiben.
Ein garantiertes Grundeinkommen könnte aus dieser Zwangslage befreien. Die Idee ist, die Bezahlung von der individuellen Arbeit – nicht von der gesellschaftlichen, das Geld muss ja irgendwo her kommen – so weit zu trennen, dass ein Auskommen auch ohne Erwerbstätigkeit garantiert ist. Auf diese Weise würde auch solche Arbeit honoriert, welche wie die Hausarbeit heute von der Bezahlung abgetrennt ist. Das Grundeinkommen würde es den Einzelnen leichter machen, das Wichtige und das Richtige zu tun (und sich die Zeit zu nehmen darüber zu streiten) – nicht mehr wie heute das Bezahlte oder wie gestern das herrschaftlich Bestimmte. Veränderung müsste nicht mehr als blindes Wachstum, sie könnte als qualitative Entwicklung angelegt sein.
Herr Hättich und Frau Wolltich bekämen eine Chance – nicht länger im Konjunktiv, sondern tatsächlich: Niemand hätte mehr das Alibi, nur des Geldes wegen das Falsche zu tun. Aus der Perspektive der Arbeitsgesellschaft endet das alles ‚natürlich’ im Nichtstun, weil sie sich Tätigkeit nur als Erwerbstätigkeit vorstellen kann. Die Alternativen, die aus einer bestimmten Position denkbar sind – vor allem die undenkbaren – verraten viel über die Begrenztheit dieser Position. Das trifft gewiss auch auf die Parteinahme für ein garantiertes Grundeinkommen zu. Es ist keine Heilsbotschaft, es birgt Risiken, seine politische Akzeptanz und seine Umsetzung machen eine Menge Arbeit. Aber, fragt der Schweizer Schriftsteller Kurt Marti, „wo kämen wir hin, wenn alle sagten: ‚wo kämen wir hin?’ und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge.“
Dr. Hans-Jürgen Arlt lebt als Publizist und Kommunikationswissenschaftler in Berlin. Vorher war er zehn Jahre lang Kommunikationschef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).
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